Liebe Leser, in dieser Kolumne kommen Sie zu Wort. Schreiben Sie Viktor, er wird auch niemanden verraten. Großes Ehrenwuff!

Viktor

Thüringen, die Letzte … und Action

Seit 1954 werden die Namen für die Tief- und Hochdruckgebiete, die das europäische Wetter beeinflussen, durch das Meteorologische Institut der Freien Universität Berlin vergeben. Seit 1998 erhalten die Tiefs in geraden Jahren weibliche und die Hochs männliche Namen. In ungeraden Jahren ist das umgekehrt. Und immer in alphabetischer Reihenfolge.

Im Februar dieses Jahres hatten wir gleich zwei Tiefdruckgebiete hintereinander. Thomas Karl Leonard Kemmerich und Sabine. Weil die Wetterdienste frühzeitig vor Sabine gewarnt hatten, konnten wir uns vorbereiten, und der entstandene Schaden hielt sich in Grenzen. Sabine fegte vom Atlantik auf uns zu.
Tief Thomas hingegen kam mit geballter Kraft aus Thüringen und traf die Nation völlig unvorbereitet. Wobei man hier die Politiker ausnehmen muss, die damit hätten rechnen müssen. Mit dem Tief aus Thüringen kam aber auch ein enormer Sturm der Entrüstung, der nachhaltiger wirken wird als der entstandene Schaden durch Sabine.

Kemmerich und Mohring werden bald Geschichte sein, aber der Umgang mit dieser politischen Apokalypse durch die handelnden Politiker bleibt in den Köpfen. Die Wähler fühlen sich bestätigt, dass die Volksvertreter sämtliches politisches Maß der Mitte verloren haben.

Und die Wahl Kemmerichs war nur das Staffelfinale einer schlechten Politikserie, in deren einzelnen Folgen die Politik sich selbst immer wieder geschadet hat. Folgen wie BER-Flughafen des Grauens, Phantom der Oper Hamburg, Scheuers „Aus die Maut“ oder von der Leyens Beraterverträge und Gehorsam tragen immer mehr zu politischer Verdrossenheit und der Unglaubwürdigkeit der Politik bei. Zumal sich die Verursacher in keiner Weise verantwortlich fühlen.
Die Dramaturgie des Finales war spannend und peinlich zugleich. Wie sich die Protagonisten geziert und rumgeeiert haben, spottet jeder Beschreibung. Von Glückwünschen zum Wahlsieg der Mini-FDP-Fraktion durch CDU-Mann Hirte oder von Frau Bär aus der CSU bis zu Kubickis diebischer Freude über den Sieg der bürgerlichen Mitte kann man nur den Kopf schütteln.

Die Einstellung vom Händeschütteln zwischen Höcke und Kemmerich war die Krönung einer miesen Regie. Einzig das schauspielerische Talent und die Fähigkeit zum Storytelling vieler Politiker verwundern, und man fragt sich: Ist das Politikergerede real oder Fiktion? Falls die Serie nicht gefällt, kann man abschalten oder umschalten, nur nicht zu den unsäglichen Talkshows, denn da geht die Schauspielerei weiter, und es beschleicht einen das Gefühl, die können nichts anderes.

Sabine haben wir überstanden, weil wir gut vorbereitet waren. Politiker, die grottenschlecht vorbereitet ihren Job machen, sollten sich den Spruch von Christian Lindner mal verinnerlichen: „Besser nicht regieren als falsch regieren.“ Aber es steht zu befürchten, dass sich nichts ändert. Denn Politik zum Lösen von Herausforderungen geht anders, und da sind wir schon Jahrzehnte im Verzug. Dieses Gefühl macht sich langsam in der Bevölkerung breit.
Seit November 2002 kann auch ein „Wetterpate“ gegen Bezahlung eine Namenspatenschaft übernehmen und den Namen des jeweiligen Tiefs oder Hochs bestimmen. Das Geld kommt der studentischen Wetterbeobachtung am Institut zugute. Patenschaften für Tiefdruckgebiete sind preislich günstiger, weil sie kurzlebiger sind und der Ruf eines Hochs besser ist. Da Kemmerich in diesem Jahr gar nicht dran ist, könnte man ja mal über 2021 nachdenken. So erfüllt der Name wenigstens noch einen sinnvollen Zweck.

In diesem Sinne
Euer Viktor