Liebe Leser, in dieser Kolumne kommen Sie zu Wort. Schreiben Sie Viktor, er wird auch niemanden verraten. Großes Ehrenwuff!

Viktor

Leben am Limit … gab es früher auch, bloß anders

Wenn man in den 60ern oder 70ern aufgewachsen ist, ist es rückblickend kaum zu glauben, dass wir so lange überleben konnten. Wir sind mit Mamas Essen groß geworden, fuhren Fahrrad ohne Helm, saßen in Autos ohne Sicherheitsgurte und ohne Airbags; hatten drei TV-Kanäle und mussten zum Umschalten aufstehen. Kassetten wurden mit einem Bleistift aufgespult, und sonntags hatten die Geschäfte zu.

Das Telefon wurde abgenommen, ohne zu wissen, wer am anderen Ende war. Wir aßen süße Kekse und Brot mit viel Butter und wurden nicht dick. Wir verließen morgens das Haus zum Spielen. Wir blieben den ganzen Tag weg und mussten erst zu Hause sein, wenn die Straßenlaternen angingen. Niemand wusste, wo wir waren, und wir hatten nicht einmal ein Handy dabei! Kein Computer, kein Internet, keine Playstation, Chatrooms oder Social Media.
Wir hatten Freunde. Mit denen trafen wir uns auf der Straße oder marschierten einfach zu ihnen nach Hause und klingelten. Ohne Termin. Keiner brachte uns, keiner holte uns. Beim Straßenfußball durfte nur mitmachen, wer gut war. Wer nicht gut war, musste lernen, mit Enttäuschungen klarzukommen. Manche Schüler waren nicht so schlau wie andere. Sie rasselten durch Prüfungen und wiederholten Klassen. Das führte nicht zu emotionalen Elternabenden oder gar zur Änderung der Leistungsbewertung. Es gab keine Pausensnacks wie Mars, Bounty oder Twix, keine Fruchtzwerge oder Milchschnitten. Mutter schmierte uns ein Pausenbrot. Zum Schwimmen in den Baggersee ohne Bammel vor dem weißen Hai. Wir dachten, die nette Frau Sommer, die zu Festtagen immer ein Pfund Jakobs Krönung mitbrachte, sei mit Dr. Sommer von der „Bravo“ verheiratet. Und Kulenkampff erfüllte den Kulturauftrag. Erst in Schwarz-Weiß, dann in Farbe.

Unser Leben war spannend und voller Abenteuer und immer am Limit. Dachten wir. Denn 1973 hatte sich unser Weltbild mehr erweitert als vier Jahre zuvor bei der Mondlandung. Eine der bekanntesten Ikonen der amerikanischen Popkultur kam nach Deutschland: der Big Mac. Anfänglich mit Endiviensalat anstelle von Eisbergsalat, denn der wurde damals in Europa gar nicht angebaut. Der kleine Burger wurde zu einer Konstanten in unserem Leben, und er hat sich nur geringfügig verändert. Bis heute. Und mit ihm tauchten wir ein in eine andere Welt mit unvorstellbaren Möglichkeiten und neuen Abenteuern.

Dann ging es Schlag auf Schlag in einem atemberaubenden Tempo. Früher wurde Tagebuch geführt, und man war sauer, wenn es jemand gelesen hatte. Heute wird online gepostet, und wir sind sauer, wenn es keiner liest. Wir haben überall unendlich viele Freunde, die wir überhaupt nicht kennen. Hauptsache, wir haben viele Likes. Wir bestellen Waren weltweit und bezahlen online. Wir bauen Bahnhöfe, Philharmonien oder Airports, die nicht fertig werden und Unsummen verschlingen. Gute Fußballspieler kosten Hunderte von Millionen, und die Schere zwischen Arm und Reich klafft immer weiter auseinander. Menschen mit weniger Geld nennen wir sozial schwach, obwohl Menschen mit sehr viel Geld oftmals sozial schwächer sind.
Immer schneller, höher, weiter, teurer. Nicht atemlos durch die Nacht, sondern atemlos durch das Leben, und dabei immer hart am Limit. Wer schlappmacht, hat verloren.

Abenteuer gibt es auch noch. Bloß anders. Fahren mit der Deutschen Bahn, mit dem alten Golf Diesel oder radeln in Köln. Tickets kaufen bei Air Berlin oder Kabelanschluss bei Unitymedia. Eier zu kaufen beim Discounter, ist ein echtes Abenteuer. Die Welt ist für uns größer und globaler geworden, aber die Abenteuer liegen wie damals direkt vor unserer Tür. Man muss nur einmal den PC herunterfahren und hinausgehen.