Liebe Leser, in dieser Kolumne kommen Sie zu Wort. Schreiben Sie Viktor, er wird auch niemanden verraten. Großes Ehrenwuff!

Viktor

Blamiere dich täglich!

Vor einiger Zeit durfte ich mich mit meiner weißen Decke im Fond eines nagelneuen Luxusautos ausbreiten. Ein befreundetes Ehepaar war so freundlich, mich mitzunehmen. Verständlicherweise hatte der Herr des Hauses das Steuer in die Hand genommen. Die Dame nahm auf dem Beifahrersitz Platz.
Bevor wir uns auf den Weg machten, wurde das Navi aktiviert, und eine sympathische Frauenstimme gab das Kommando: „Die Route wird berechnet. Starten Sie jetzt!“ Wir gehorchten augenblicklich und fuhren los. Ungewöhnlicherweise war es sehr leise da vorn. Keine Unterhaltung, nicht einmal ein „Du kannst ja noch nicht einmal Karte lesen“. Es gab auch keinen handfesten Streit über den richtigen Weg. Selbst so profane Äußerungen wie „Herbert, du bist zu dumm, dir eine Strecke zu merken, die du schon einmal gefahren bist“ wurden zweitrangig, solange Herbert nur glaubte, die Bemerkung komme aus dem Lautsprecher des Navi-Geräts.  So schlief ich langsam ein und hatte einen Albtraum: Haben Sie ein Navi in Ihrem Unternehmen? Installiert vom Controlling oder der Geschäftsleitung? Ein Navi, nach dem sich alle richten? Selbst der Wettbewerber? Wie ich darauf komme? Welcher nassforsche Marketingtyp hat noch die Courage, etwas sensationell Neues vorzuschlagen? Einen neuen Weg, eine neue Kampagne oder eine Inszenierung der hauseigenen Marke?
Ich träumte etwas Furchtbares. Es ist wahr. Es gibt das Unternehmens-Navi. Alle gehen den gleichen Weg, bringen die gleichen Produkte, fahren dieselben Umleitungen, selbst bei Stau. Der Einzelne wird dadurch nicht schneller, der Stau wird nur verlagert. Jeder guckt vom anderen ab. Frei nach dem Motto „Lieber gut gekupfert als schlecht selbst gemacht“. So werden alle Produkte austauschbar, und wirklich mutige Innovationen finden fast nicht mehr statt.
Kreativität in der Werbung wird zugunsten einer austauschbaren, langweiligen, aber navigesteuerten Kampagne geopfert. Offenbar schätzen viele Unternehmenslenker die klaren Ansagen einer neutralen technischen Autorität, der sie sich unterwerfen dürfen. Männer fragen nicht nach dem Weg. Sie folgen dem Navi, keiner hat mehr den Mut, sich zu blamieren. Vorbei sind die Zeiten, da manch einer noch seinen Beifahrer anschnauzen konnte: „Welcher blinde Typ hat denn behauptet, dass wir da vorn links abbiegen müssen? Nun sieh zu, wie du den Wagen hier in der Sackgasse gewendet kriegst.“ Gott sei Dank hörte ich dann mein persönliches Navi: „Viktor, du fauler Hund, nun komm endlich aus dem Auto!“ Aus der Traum: Gott sei Dank!

Euer Viktor