Reise nach Eden

Chiles Weingüter sind in einer anderen Welt zu Hause – Teil 1

von Wilfried Moselt

Chile, das ist die Geschichte eines ganz anderen Landes. Es ist die Geschichte von märchenhaften Besitztümern in weiten Parks hinter Mauern und sperrenden Schranken und von ergreifend bescheidener Genügsamkeit in endlosen Reihen windschiefer Hütten hinter notdürftig zusammengezimmerten Gartenzäunen an Landstraßen und Wegen.

Es ist die Geschichte von Genuss und Gelassenheit, wo Neid und Missgunst offenbar keinen Platz haben. Wo die Reichen standesgemäß leben und die Mittellosen sich mit dem einrichten, was das Schicksal ihnen zu bieten hat. Und wenn die, die nicht zu den Wohlhabenden gehören, irgendwo ein Fleckchen Erde ihr Eigen nennen, auf dem sich ihre baufällige Behausung auf kargem Grund hinreichend aufrecht hält, zeigen sie sich stolz und zufrieden, und man ist bereit, ihnen zu glauben, dass sie ihr kleines Glück gefunden haben.
Chile, das ist in der Tat vor allem die Geschichte von überaus liebenswerten Menschen. Von Menschen, die in einem Traumland leben, das auf seiner Länge von 4.300 Kilometern zwischen der mächtigen Kette der Anden und dem Pazifischen Ozean mit Schönheit im Überfluss aufwarten kann – von der trockensten aller Wüsten im Norden über Bilderbuchlandschaften mit weißen Stränden, romantischen Flusstälern und ehrfurchtgebietenden schneebedeckten Bergriesen bis zu den eisigen Gletschern im Süden.
Und dass es in seiner geographischen Mitte über herausragende Weinbaugebiete verfügt wie Anconcagua, Cachapoal, Casablanca, Colcha-gua und Curicó, Maipo und Maule, Rapel und San Antonio, wo allenthalben großartige Weine wachsen, ist ein besonderer Segen für das Land und seine Menschen.

Die Anden als unerschöpflicher Wasserspender

Chile ist auf dem Weg, ein Weinland der unbegrenzten Hoffnungen zu werden, mit optimalen klimatischen Gegebenheiten und modernster Technik im Weinberg und im Keller – und mit den Erfahrungen, die die einheimischen Weinmacher und die hier heimisch gewordenen Einwanderer aus den etablierten Weinbauländern mitgebracht und an die Verhältnisse in der Neuen Welt angepasst haben. Bemerkenswert ist, dass es die Reb-laus noch nicht bis nach Chile geschafft hat, wo die Rebstöcke in aller Regel noch wurzelecht sind.
Manche Experten wie Dominique Massenez, Geschäftsführer im Weingut Château Los Boldos, behaupten, das läge an den kupferhaltigen Böden, ist doch Chile mit rund 20 Prozent der Kupfervorkommen der Erde der bedeutendste Kupfererzeuger in der Welt. Andere wie Claudio Na-ranjo, Geschäftsführer im Weingut Los Vascos, führen es darauf zurück, dass man in früheren Zeiten die Rebfelder in bestimmten Zeitabständen regelrecht flutete und so dem Schädling den Garaus machte. Aber das muss alles so nicht stimmen, und um für den Fall der Fälle gewappnet zu sein, dass die Reblaus eines Tages doch noch hier auftauchen sollte, werden zunehmend Reben mit Edelreisern gepfropft, um die Stöcke reblausresistent zu machen.
Die enormen Mengen, die Jahr für Jahr gerade im Hochsommer, also im Januar und Februar, in einer Zeit faktisch nicht vorhandener Nieder-schläge als Schmelzwasser von den Hochlagen der Anden herabströmen und sich in Aberhunderten von Bächen sammeln, sind jedenfalls trotz der insgesamt vorherrschenden Regenarmut in den sonnenverwöhnten Weinbaugebieten die Gewähr für eine ausreichende Wasserzufuhr. Das Wasser wird zumeist in Form von Bewässerungsgräben durch die Weinberge geleitet oder in die höheren Lagen gepumpt, um als Tröpfchenberieselung in den Rebzeilen an den Boden wieder abgegeben zu werden, soweit sich das als notwendig erweist. In der Ebene genügen häufig die allseits vorhandenen Wasserläufe, um den Grundwasserspiegel so einzustellen, dass die Rebstöcke mit der notwendigen Feuchtigkeit versorgt werden.
Chiles sanftmütige „Vagabunden“

Der Weg vom Flughafen von Santiago zum ersten Weingut der Tour führt durch Vororte der Millionenstadt und durch Siedlungen an unbefestigten Landstraßen. Vorbei an quirligem Leben, zu dem auch die nirgends angeleinten friedlichen Hunde mit den traurigen Gesichtern zu rechnen sind, die man niemals bellen hört. Sie ruhen allerorten in  Chile mit unerschütterlicher Abgeklärtheit hart am vorbeibrausenden Verkehr oder warten gelegentlich an roten Ampeln auf die Grünphase, um dann schnurstracks einem mysteriösen Ziel zuzustreben.
Die Menschen begegnen diesen sanftmütigen „Vagabunden“, die sich so tapfer durchs Leben zu schlagen scheinen, mit einer Art von kameradschaftlichem Verständnis. Es ist, als sei selbst das ein weiterer Beleg für die außerordentliche Duldsamkeit der Chilenen. Zum Leben und Sterben in Chile gehören auch die hundehüttengroßen Bauwerke, denen man alle paar Kilometer am Straßenrand begegnet. Sie sind aus Holz, Stein oder Blech angefertigt, meistens mit einem Kreuz im Giebel versehen und im Innenraum bisweilen mit Kerzen ausgeleuchtet und sollen, wie es heißt, den Seelen tödlich Verunglück-ter als vorübergehende Herberge dienen. Es müssen viele sein, die auf Chiles Straßen im Verkehr ihr Leben lassen, wenn man von der Zahl der Seelenhäuschen ausgeht.
Klimaveränderung auch in Chile

Dass die Klimaveränderung auch vor Chile nicht haltgemacht hat, beweist der Jahrgang 2004, der weitestgehend 20 Tage früher eingefahren wurde als sonst üblich. Der Weißwein war Ende Februar praktisch unter Dach und Fach. Die Rotweinlese, die um den 10. März herum begonnen hatte, wurde noch im selben Monat komplett abgeschlossen. Man ist unter den chilenischen Erzeugern mit dem Wetter nicht ganz zufrieden gewesen, weil es wohl doch arg heiß war und die Weine nicht überall die nötige Vegetationszeit hatten, um in Ruhe auszureifen, was insbesondere für den einen oder anderen Weißwein gelten mag.
Die in der Folge vorgestellten Betriebe sollen einen Querschnitt durch Chiles exportorientierte Weingüter bilden und für den Aufstieg des auf dem internationalen Parkett noch jungen Weinlandes stehen. Es hat auf den Märkten Europas und der Vereinigten Staaten bereits Fuß gefasst und schickt sich nun an, die Alte Welt ausgiebig zu erobern.
Chaussee mit Schlagbaum

Die Chaussee zum ersten Weingut endete indessen zunächst an einem Schlagbaum mit Wachtposten, und das war keineswegs ungewöhnlich. Denn Schlagbäume und Wachmannschaften gehören zu Chiles Weingütern wie der Wein. Auf den großen Anwesen, die nicht selten über eigene Seen und Parks mit privatem Golfplatz verfügen, muss man im allgemeinen zwei oder gar drei Kontrollschleusen passieren, bevor man zum Herzen des Gutes gelangt.
Als es schließlich weiterging, hatte der Wagen eine in den Boden eingelassene Desinfektionswanne zu durchqueren, damit die Reifen keine Keime einschleppten. Dann brauchte es von der Schranke bis zum eigentlichen Weingut geschlagene fünfzehn Minuten Autofahrt auf einer blitzsauberen Privatstraße, die sich am Hang über einem verträumten Fluss-tal entlang schlängelte. Die Dimensionen von Besitz sind in Chile eben andere als die, die der Europäer zu Hause gewohnt ist. Für den Weinfreund soll dieser Bericht eine Einladung sein, sich neugierig und ohne Reue auf Chile und seine Weine einzulassen.

Die vollständige Redaktion finden Sie in unserer Print-Ausgabe  06/07/2004