Der Verkünder

Tamara Dragus im Gespräch … Günther Guder

Finalität ist ein Begriff aus der Astrologie. Unter anderem. Die Finalität
ist der Gegensatz der Kausalität, ist die Bestimmung eines Geschehens
oder einer Handlung nicht durch ihre Ursachen, sondern durch ihren
Zweck. Die Zweckbestimmtheit sozusagen. Günther Guders Finalität ist
die Verkündung. So steht es in den Sternen, so will es sein Horoskop.
Ob als Klassensprecher, Studentenvertreter oder als privater Rezitator
der „Straße der Ölsardinen“ am Wochenbett seiner Frau – dieser Mann
ist zum Reden geboren. Dass er dabei auch eine Menge zu sagen hat,
beweist der geschäftsführende Vorstand des Bundesverbandes des
Deutschen Getränkefachgroßhandels in einem bemerkenswert offenen
Gespräch, das Dimensionen annimmt, die einen tief berühren.
Günther Guder nimmt sich Zeit. Stellt das Telefon ab und beginnt zu erzählen. Von den wilden 68ern, in denen er, wider den rebellischen Strom schwimmend, eine grundsolide Banklehre beginnt. Schon ein Jahr vor Abschluss seiner Mittleren Reife hat er den Lehrvertrag in der Tasche. Von seiner Zeit bei der Bundeswehr, in der er sich in Abendkursen auf seine Weiterbildung vorbereitet. Es folgt ein Jahr Fachoberschule in Göttingen, das mit der Fachhochschulreife endet.

Zwischendurch lernt er Monika kennen. Sie ist sechzehn und Gym-
nasiastin. Die Liebe entflammt am Weltspartag 1970. Als Monika
drei Jahre später das Angebot bekommt, zur Kriminalkommissarin
zu avancieren, entscheidet sie sich gegen die Polizei und für
Günther. Zusammen ziehen sie in eine zwölf Quadratmeter kleine
Wohnung, er studiert Betriebswirtschaft, sie Jura. Beide ehrgeizig
und mit einem klaren Ziel vor Augen. Leben auf der Überholspur.

Nach nur sechs Semestern macht Guder seinen Abschluss als Diplombetriebswirt. Das Angebot als EDV-Anlageberater für Banken zu Siemens zu gehen, schlägt er aus. „Obwohl ich sehr früh sehr viel Geld hätte verdienen können, habe ich mich für den schlechter bezahlten Job entschieden. Ich hatte da viel mehr Gestaltungsmöglichkeiten.“ Der frisch Diplomierte geht als Prokurist zur Brau-Ring-Kooperation nach Wetzlar. Im selben Jahr wird er zum ersten Mal Vater. Sohn Andreas kommt im November 1978 zur Welt. Als zwei Jahre später das zweite Kind kommt, beginnt ein neues Kapitel in der Guderschen Biographie. Ein Kapitel, das ungeheuer schmerzhaft den gesamten Lebensplan auf den Kopf stellen wird und einen Menschen, der bis dato nur im Eiltempo gelebt hat, zwingt, sein gesamtes Weltbild in Frage zu stellen. „Es war die dunkelste Phase in meinem Leben, aber auch die wichtigste. In dieser Zeit habe ich tiefen Zugang zu meinem Innern gefunden.“ Tochter Annemarie wird einen Tag vor Weihnachten geboren und kommt mit schweren Herzfehlern zur Welt. Im Laufe der folgenden zwei Jahre wird sie mehrmals erfolgreich operiert. Am Schluss bleiben nur noch ein paar Tröpfchen, die sie täglich nehmen muss, um die Herzfunktion zu stabilisieren. Ein tragischer Unfall beendet das Leben der Kleinen einen Tag nach ihrem zweiten Geburtstag. Am Heiligen Abend 1982 stirbt Annemarie in den Armen ihres Vaters. „Ab da war nichts mehr wie vorher.”

Günther Guder flüchtet sich zunächst in Arbeit. Und Verdrängung. „Ich dachte, ich müsste einen klaren Kopf behalten.“ Ein paar Wochen geht das gut. Dann folgt der Zusammenbruch. Guder nimmt professionelle Hilfe an und beginnt fortan, den Dingen eine andere Wertschätzung beizumessen. „Mein gesamtes Tempo hat sich verändert. Ich bin weg von diesem extremen Getriebensein, dieser starken Vorprogrammierung“. Nach einer tiefen Krise und dem schmerzhaften Prozess der Trauerarbeit, lernen Günther Guder und seine Frau ganz langsam den Verlust anzunehmen. Die Entscheidung für ein drittes Kind treffen sie bewusst. Im Juli 1984 kommt Tochter Regina gesund zur Welt. Heute weiß Guder, dass Leben sich nicht planen lässt, handelt oft nach der Maxime „Bist du in Eile, nimm einen Umweg“. Lässt Entwicklungen auf sich zukommen, anstatt sie zwanghaft forcieren zu wollen. Dass sein damaliger Arbeitgeber, die Brau-Ring, ihm in dieser schwierigen Zeit Halt und Unterstützung gab, hat Guder bis heute nicht vergessen.

Nach neun Jahren erfolgreicher Tätigkeit bei der Kooperation wechselt
er 1987 als Werbeleiter zum Einbecker Brauhaus. Dann kommt
Brau & Brunnen ins Spiel, nimmt das Ruder in die Hand und Guder geht.
„Ich wollte kein ferngesteuerter Hansl sein.“ Immer dann, wenn Günther
Guder das Gefühl bekommt, in seiner Freiheit beschnitten zu werden,
sucht er nach Alternativen. „Das ist ein großes Thema bei mir. Ich
funktioniere nur, wenn man mich frei arbeiten lässt. Man darf mir keine
Zügel anlegen.“ Nach seiner Devise „Wenn schon, dann intensiv“, kann
er sich denn auch als Produktmanager und Leiter der Öffentlichkeits-
arbeitbei Licher so richtig austoben. „Das war eine tolle Zeit.“ Im Zuge der
Umpositionierung etablieren Guder und sein Team den Eisvogel im
Naturkonzept der Marke Licher und initiieren nebenbei „das größte
Event, das ich je organisiert habe“. Für sechs Vorstellungen holt Guder
den weltberühmten Circus Roncalli in den beschaulichen Erholungsort.
Eine Aktion, die für Aufsehen erregende Publicity und einen über-
regionalen Bekanntheitsgrad der Marke sorgt.

Nach drei Jahren hessischer Provinz, lässt sich Guder Großstadtluft um die Nase wehen. Dem Ruf ins Ländle folgt die ganze Familie. Guder wird Marketingleiter bei der Dinkelacker Brauerei in Stuttgart, seine Frau Monika arbeitet als Anwältin für den Verband der baden-württembergischen Textilindustrie und beginnt sich auf Arbeitsrecht zu spezialisieren. Die Fähigkeit, verschiedene Meinungen unter einen Hut zu bringen, die man laut Guder braucht, um sich erfolgreich im Verbandswesen zu behaupten, scheint in der Familie zu liegen. Wieder vergehen vier Jahre, bevor Guder beschließt, auch den Schwaben adieu zu sagen. Auslöser ist die Fusion mit der Schwaben Bräu. Wieder einmal wird es Guder zu eng, sein Radius droht sich einzuschränken. „Schön war’s“, denkt er und geht. Nur Sohn Andreas bockt. Kurz vor dem Abi möchte er nicht schon wieder die Schule wechseln, um dem rastlosen Vater hinterher zu ziehen. Er entscheidet sich, alleine in Stuttgart zu bleiben. „Zu jung“, befinden die Eltern. Man einigt sich auf ein Jahr Auslandsaufenthalt in den USA und den anschließenden Umzug nach Krefeld. Ein Kompromiss, den Vater Guder nie bereut hat.
„Wir haben einen Jugendlichen weggeschickt und einen Erwachsenen zurückbekommen.“ Der erwachsene Andreas ist inzwischen 25, hat das Studium der „Internationalen Absatzwirtschaft“ in Venlo fast abgeschlossen und schreibt im Moment an seiner Diplomarbeit. Schwester Regina möchte dasselbe machen, und beide sind laut Aussage ihres Vaters „rundum gut geraten.“ Dass auch er ein Stück dazu beigetragen hat, ist ihm bewusst. Bis heute sucht er den offenen Dialog. Als die Kinder klein sind, schnappt er sie sich in jeder freien Minute und tut das, was er am liebsten tut: verkünden. Tag und Nacht liest er den beiden aus ihren Lieblingsbüchern „Die wilden Kerle“ oder „Pu, der Bär“ vor. Mit vertauschten Rollen, versteht sich.

1996 kehrt Guder der schwäbischen Metropole den Rücken und folgt
dem Ruf von Carl-Heinz Willems, dem damaligen Präsidenten des
Bundesverbandes des Deutschen Getränkefachgroßhandels. Willems
möchte alles, „nur keinen Juristen“. Die Wahl fällt auf Guder, denn Guder
vereint das, was nötig ist, um den Verband zu einem homogenen
Ganzen zu machen: Marketing-Erfahrung, strategisches Know-How,
genügend Branchenkenntnis und last but not least, die Fähigkeit, die
Anliegen der verschiedenen Mitglieder auf einen Nenner zu bringen.
Er selbst spricht von dem Ziel, „eine sachorientierte Politik im Interesse
unserer Mitglieder durchzuführen.“

Dazu sei vor allem ein ganzheitlicher Blick nötig. Und den hat Guder.
Immerhin schafft er es seit acht Jahren an der Spitze, die inzwischen
1111 Verbandsmitglieder, die 88 Prozent des Umsatzes aller rund
5.800 Betriebe der Branche erwirtschaften, erfolgreich zusammen zu
führen. Kleine Nackenschläge versucht Guder gelassen zu nehmen.
Obwohl es ihn immer wieder wundert, mit welcher Selbstgefälligkeit
so manch brisante Themen ignoriert werden. Thema Pflichtpfand.
„Einige haben wirklich bis zum Schluss geglaubt, wir kriegen das
nicht durch. Die haben einfach die Augen zugemacht, weil sie sich
zu sicher waren.“ Enttäuschend auch, dass der eine oder andere in
dem prekären Thema persönliches Konfliktpotential witterte. Wenig
souverän, befindet der Verbandschef.

Läuft ihm mal wieder zu viel quer, dann geht er einlochen. Golf, die neue Leidenschaft des Günther Guder. Geweckt im letzten Club-Urlaub, weil sich der Frühstücksraum auf Höhe von Loch 6/7 befand. „Jeden Morgen ist der Ball an mir vorbeigeflogen. Irgendwann musste ich es selbst ausprobieren.“ Inzwischen ist er Mitglied im Verein, pardon, Club – aber ohne viel Dünkel, „alles ganz bodenständig“. Wenn auch das Schlagen von Bällen nichts mehr hilft, widmet sich Günther Guder den Zeilen seines Lieblingsgedichtes „Stufen“ von Hermann Hesse, das in seiner Schreibtischschublade ganz obenauf liegt:

„Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
in andre, neue Bindungen zu geben;
und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
der uns beschützt und der uns hilft zu leben.“