von Timur Dosdogru
Seit genau 140 Jahren gibt es das Champagnerhaus Alfred Gratien
in Epernay. Die klassische Kellerei sieht sich als typisch französischer Edel-Champagnerhersteller und ist eine der wenigen, in welcher Champagner buchstäblich noch von Hand gemacht wird.
Die Gratien-Cuvées gehören zu den besten und prestigeträchtigsten Marken der Champagne – und zu den kleinsten: nur 200.000 Flaschen werden insgesamt pro Jahr produziert, um dem Qualitätscredo des gleichnamigen Firmengründers nachzukommen. Die dgw hat sich der Region und im Haus Gratien umgesehen.
Wer die Champagne bereist, mag sich vielleicht wundern, dass der gesamte Champagner, der weltweit getrunken wird, von hier stammen soll und daher erwartet man auch eher eine gewisse Größe des wohl bekanntesten Weinanbaugebiets der Welt. Natürlich ziehen sich die Rebstöcke kilometerlang, soweit das Auge reicht. Tatsächlich wirkt es aber auf den ersten Blick eher klein, weil die berühmten und auch weniger berühmten Häuser mit den klangvollen Namen der Champagnerwelt oft nur einen Steinwurf auseinander liegen. Man ist unter sich in der Champagne.
Die Städte Reims und Epernay bilden zusammen das Zentrum des Champagnerhandels, Champagnertrauben werden aber auch in den Departments Aisne und Aube geerntet. Und doch heißt es, man brauche einen Tag, um allein die Sehenswürdigkeiten der alten Königs- und Krönungsstadt Reims zu sehen. Beispielsweise vormittags die Basilika und das Museum St.-Remi, nachmittags das Palais du Tau. Und die Kathedrale, in der man den Geist der Geschichte auf sich wirken lassen kann, indem man der Statue der Heiligen Jeanne D’Arc ins mutige Auge blickt oder die herrlichen Kirchenfenstern von Chagall bestaunt – und natürlich auch, um eine Champagnerkellerei zu besuchen. Tatsächlich hat es um diese Gegend und die Stadt Reims in rund 2000 Jahren immer eine Menge Krach, Krieg, Mord und Totschlag gegeben. Zuletzt als Schauplatz der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht im Mai 1945. Die Stadt im Department Marne geht auf eine Siedlung der gallischen Remer am Rand der Vesle-Sümpfe zurück, wurde nach der römischen Eroberung Civitas Remorum genannt und war wegen der günstigen Lage an den Handelsstraßen nach Burgund und Paris nach Lothringen Hauptstadt der Provinz Belgica secunda. Schon damals zählte die Stadt mit ihren prächtigen Bauten bereits etwa 80.000 Einwohner. Seit Ende des dritten Jahrhunderts breitete sich das Christentum trotz wiederholter Verfolgungen aus und so wurde Reims Kirchenprovinz, in der die Erzbischöfe Sixtus, Nikasius und St. Remigius (St.-Remi) heilig gesprochen wurden. Nach seinem Sieg über die Alemannen ließ sich der Frankenkönig Chlodwig (Chlovis) Weihnachten 498 von Erzbischof Remigius in Reims taufen, der bis heute in der gleichnamigen Basilika seine letzte Ruhestätte fand. Eine Taube soll der Legende zufolge das Öl zur Salbung in der so genannten Heiligen Ampulle gebracht haben, wobei ein solches Sinnbild des Gottesgnadentums auch die letzten Einwände beseitig haben dürfte. Jedenfalls waren alle späteren Nachfolger Chlodwigs von dem Gedenken an dieses Ereignis so begeistert, dass sie alle in Reims gekrönt werden mussten.
Die berühmteste Krönung war wohl die von Karl VII., den die eingangs erwähnte Heilige Johanna durch das von den feindlichen Engländern besetzte Land nach Reims geführt hatte. Das Krönungszeremoniell sollte dann bis 1825 zur Krönung des letzten französischen Königs Karl X. beibehalten werden. Da war Jeanne d’Arc zwar wohl die berühmte Jungfrau, leider aber noch nicht heilig gesprochen – und – weil das nur bei Verblichenen möglich ist, musste sie, die Gott bis zur Selbstaufgabe liebte, erst als arme Ketzerin und Hexe auf dem Scheiterhaufen enden. Undank ist eben der irdischen Welten Lohn.
Mit dem Ende des zweiten Weltkrieges waren die blutigen Zeiten in dieser Region aber endgültig vorbei. Heute gilt Reims als bedeutendes Handelszentrum mit verschiedenen Industriezweigen. Nachdem im Mittelalter die Tuch- und Wollfabrikation eine wichtige Rolle spielte, gibt es dort heute nur noch einzelne Häuser für Konfektion und Wirkwaren. Und daher nehmen Champagnerproduktion und -handel mit ihren verschiedenen Zulieferindustrien wie Flaschen, Korken und Verpackung den wichtigsten Platz ein. Zudem haben sich die pharmazeutische Industrie, feinmechanische und elektronische Betriebe, Forschungslaboratorien sowie Banken und Versicherungen entwickelt, Künstler wie Villon, Braque, Chagall und Da Silva arbeiteten bereits in den Kunstglasereien der Stadt.
Es gilt als verbrieft, dass an der Marne bereits vor dem fünften Jahrhundert Wein angebaut wurde und im Mittelalter hießen die dortigen Weine bereits vins françois – Frankenweine. Und diese lernten erst im 18. Jahrhundert das Schäumen, was laut offizieller Lesart dem Benediktinermönch Dom Perignon zu verdanken ist, obwohl es im Süden Frankreichs schon im 16. Jahrhundert Schaumweine gegeben haben soll. Wie dem auch sei, fest steht zumindest, dass der blinde Mönch sich die Kunst angeeignet hatte, verschiedene Grundweine harmonisch zu vermählen (klingt besser als verschneiden) und diese zum Schäumen zu bringen. Anfang des 18. Jahrhunderts notierte ein Chronist aus Reims, dass die Franzosen seit über 20 Jahren ganz verrückt nach prickelndem Wein seien, vor allem die Einwohner von Paris, weshalb die Weinhändler sogar nicht vor der Zugabe „von Weingeist und Taubendreck“ zurückschreckten, um den begehrten Schaum in ihre Weine zu bringen.
Das älteste Champagnerhaus der Welt, Ruinart, wurde 1729 gegründet, andere berühmte Marken folgten. Das Gebilde der Champagne als Wirtschaftsraum zeigt sich heute als besonders komplex und ist daher streng geordnet. Die großen Handelshäuser vermarkten rund zwei Drittel der Champagnerproduktion, wäh…
Die vollständige Redaktion finden Sie in unserer Print-Ausgabe 05/2004