Die Zukunft unserer westlichen Welt – Zweiter Teil
Vortrag zum DEUTSCHEN BRAUERTAG am 17. Juni 2003 in Hamburg
UNIV.-PROF. DR. HORST W. OPASCHOWSKI
Universität Hamburg B-A-T Freizeit-Forschungsinstitut
Zukunftstrend 6: Die Überalterung
Kennen Sie den Unterschied zwischen einem deutschen, englischen und französischen Rentner?
Des Rätsels Lösung soll ganz einfach sein:
• Der deutsche Rentner steht um 7.00 Uhr auf, nimmt seine Herztablette und fängt nach dem Frühstück sofort mit der Gartenarbeit oder dem Zeitunglesen an.
• Der englische Rentner steht um 8.00 Uhr auf, trinkt seinen Tee und geht gemächlich zum Golf oder nächsten Windhundrennen.
• Der französische Rentner steht um 9.00 Uhr auf, kippt den Cognac herunter – und dann ab zur Freundin! Das ist natürlich ein Klischee.
Im Jahre 1900 wurde das „Jahrhundert des Kindes“ (Ellen Key 1900) ausgerufen – kommt nun das Jahrhundert der Senioren? Der demographische Wandel hat die Altersgrenze verschoben: Alt ist man erst mit 76 Jahren. Das geht aus unserer Repräsentativbefragung hervor, in der wir danach gefragt haben, „ab wann man heute wirklich alt“ ist. Die offizielle Altersgrenze von 65 Jahren steht also nur noch auf dem Papier.
Wenn die Lebenserwartung weiter so kontinuierlich ansteigt, gilt man im Jahr 2030 vielleicht erst mit 86 Jahren als alt. Wir kennen es alle aus dem Wetterbericht: „Gefühlte Temperaturen“ sind etwas anderes als objektiv ablesbare Temperaturen auf dem Thermometer. Ähnlich verhält es sich mit dem gefühlten Alter, das sich immer mehr vom biologischen Alter abkoppelt. Die „Man-ist-so-alt-wie-man-sich-fühlt“-Devise soll die Mitte des Lebens festhalten helfen: Der 50-Jährige spielt Tennis wie ein 40-Jähriger. Die 60-Jährige wirkt wie eine Powerfrau mit 48 und die 70-Jährigen entdecken Abenteuerreisen in die Antarktis, die eigentlich die Kondition mittlerer oder gar jüngerer Generationen voraussetzen.
Die neuen Senioren sind also kein Phantom; es gibt sie wirklich. Die Aktion „Senioren ans Netz“ hat ja bald mehr Erfolg als die Kampagne „Schulen ans Netz“: Steigen die ersten jungen Leute aus dem World Wide Web schon wieder aus, weil sie beim Chatten immer öfter auf ältere Surfer stoßen? Über die Jugend von heute wissen wir fast alles, über die Neuen Senioren von morgen fast nichts. Sinkende Geburtenquoten und steigende Lebenserwartung zwingen jedoch zum Umdenken.
Wir müssen Abschied nehmen vom Zeitalter der Kids-Kultur und uns mehr öffnen für die Welt der Neuen Senioren, die Autokäufer und Theaterbesucher, Buchleser und Golfer, Kur- und Kurzurlauber, Kirch- und Kneipengänger zugleich sind. Wie wird die Szene- und Erlebniswelt der Neuen Senioren von morgen aussehen? Werden die Kultmarken der Jugend überleben? Oder wird es schon bald heißen: Nivea statt Nike, Audi statt Adidas. Und werden Nestlé, Miele und Mercedes grüßen lassen, während Swatch, Levies und MTV ihren Marken-Mythos verlieren, weil sie zu spät erkennen, dass wieder mehr Lebensart als Lifestyle gefragt ist?
Die Bevölkerung altert dramatisch. Die Lebenserwartung steigt weiter an. Bis zum Jahre 2040 wird sich der Anteil der über 60-jährigen Bevölkerung in Deutschland verdoppeln (vgl. Statistisches Jahrbuch 1998). Diese demographische Revolution bleibt nicht allein auf Deutschland beschränkt. Nach Berechnungen des UN-Bevölkerungsfonds (UNFPA) wird die allgemeine Lebenserwartung in den westlichen Industrieländern bis Ende des Jahrhunderts auf 87,5 Jahre (bei Männern) und 92,5 (bei Frauen) steigen. Selbst ein Leben über 100 könnte mit Hilfe der Genforschung Wirklichkeit werden. Bedrückende Aussichten für die arme Erbengeneration, die so lange warten muss. Mittlerweile hat selbst das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zur Pflegeversicherung vom unausweichlichen und sehr massiven Altern der Gesellschaft gesprochen und sich der Expertenmeinung (vgl. Herwig Birg 2001) angeschlossen, die da lautet: Wenn man die heutige Altersstruktur erhalten will, muss entweder die Geburtenrate pro Frau von derzeit 1,3 umgehend auf 3,8 verdreifacht werden oder „es müssten 188 Millionen jüngere Personen bis zum Jahr 2050 einwandern“ (Urteil vom 3. April 2001) – also jedes Jahr mehr als drei Millionen Zuwanderer. Das ist ebenso unvorstellbar wie unrealistisch.
Die Überalterung ist vorprogrammiert: Insbesondere Deutschland und Italien werden grau und zählen zu den Ländern in der westlichen Welt mit den niedrigsten Geburtenraten und den höchsten Altenanteilen. Immer weniger jüngere Menschen müssen immer mehr alte Menschen in den sozialen Sicherungssystemen versorgen. Die so genannte rechnerische „Alterslast“ wird sich in den nächsten fünfzig Jahren verdoppeln. Mit der Überalterung, das heißt der überproportionalen Zunahme alter Menschen wird das gesamte gesellschaftliche Leben an Dynamik verlieren. Die Zuwanderungskommission des Deutschen Bundestages stellt dazu lakonisch fest: „Die Fähigkeit des Menschen, sich neues Wissen anzueignen, nimmt mit zunehmendem Alter ab“ (UK 2001, S.33).
Mit anderen Worten: Angesichts der schnellen Zunahme und Erneuerung des Wissens insbesondere in den wachstumsrelevanten Schlüsseltechnologien müssen die Unternehmen mit einem Verlust an Innovationsfähigkeit und Wettbewerbskraft rechnen: Eine strukturelle Altersrezession droht. Gleichzeitig sinkt die Anpassungsfähigkeit an neue technologisch-wirtschaftliche Erfordernisse und die unternehmerische Risikobereitschaft geht zurück. Die Folgen sind klar: Die Zahl der Arbeitskräfte und Verbraucher sinkt, der Umfang von Angebot und Nachfrage auch. Das Wirtschaftswachstum wird chronisch gelähmt und führt zu einer dauerhaften Rezession, wenn sich nicht Arbeits-, Steuer- und Sozialgesetzgebung grundlegend ändern und bevölkerungspolitisch gegensteuern.
Zukunftstrend 7: Die Mobilisierung
Eine chinesische Delegation war unlängst im Ruhrgebiet zu Gast. Mit einer deutschen Expertengruppe von Verkehrspolitikern fuhr diese Delegation aus China durch Nordrhein-Westfalen. Bei der Ankunft auf der Bundesautobahn ging nichts mehr: Die Autos standen in einem gigantischen Stau, die Luft war schlecht – doch die Stimmung der Chinesen gut. Warnend und fast beschwörend appellierte dennoch der Sprecher der Deutschen an die ausländische Delegation: „Setzen Sie in China nicht so stark auf die Autos“, ließ er den Dolmetscher übersetzen, „schauen Sie her, zu was das bei uns geführt hat.“ Die Chinesen sahen sich wechselseitig relativ verständnislos an und gaben dann dem Dolmetscher die Frage zurück: „Wieso macht Ihr Deutschen es denn, wenn es so blöd ist?“ (Holzapfel 1995, S. 218).
Recht haben sie. Offensichtlich ist bei den meisten Autofahrern – trotz Stau – die Lust immer noch größer als der Frust – sonst würden sie es doch nicht tun. Werden also die 400 Millionen Chinesen, die heute noch mit dem Fahrrad fahren, in Zukunft mit 400 Millionen Autos unterwegs sein, weil auch sie etwas erleben wollen? Alle Anzeichen sprechen dafür, dass die freizeitmobile Lust am Autofahren in den nächsten Jahren weiter zunimmt. Weder der Drang ins Grüne oder Freie noch der Wunsch nach Orts- oder Tapetenwechsel motiviert die Menschen am meisten zu massenhafter Mobilität. Was nach Meinung der Bevölkerung dieses Mobilitätsbedürfnis am ehesten erklärt, ist die „Angst, etwas zu verpassen“. Viele haben die Befürchtung, geradezu am Leben vorbeizuleben, wenn sie sich nicht regelmäßig in Bewegung setzen. Motorisierte Mobilität entwickelt sich insbesondere bei Männern nicht selten zum körperlichen Bewegungsersatz. Vielleicht sind manche Männer im Grunde ihres Herzens immer noch Jäger oder Cowboys, die auf ihren Pferden durch die weite Prärie reiten und das Wild oder die Rinder vor sich hertreiben. Wenn kein Pferd oder Rind in der Nähe ist, dann kann es auch ein Auto sein…
Die künftige Generation wird also auch eine mobile Generation sein, die ,nur ja nichts verpassen will. Das Nomadisieren („Heute hier – und morgen fort“) gehört dann immer dazu. Unsere Befragungsergebnisse bestätigen geradezu Analysen des Amerikaners Vance Packard aus den siebziger Jahren, der seinerzeit der Frage nachging, warum die Menschen immer rastloser werden – im Grunde genommen nicht auf irgendein Ziel hin, sondern immer von etwas weg. Packard nannte dieses Phänomen das „Kalifornien-Syndrom“ (Packard 1973). Das Kalifornien-Syndrom basiert auf den beiden Säulen Geld und Zeit: Aus jedem Tag und jeder Stunde muss soviel wie möglich herausgeholt werden. Man lebt und konsumiert im Hier und Jetzt: „Lebe dein Leben, genieße es – so lange du kannst.“ Hauptsache, die Langeweile ist ganz weit weg.