Die Zukunft unserer westlichen Welt – Erster Teil
Vortrag zum DEUTSCHEN BRAUERTAG am 17. Juni 2003 in Hamburg
UNIV.-PROF. DR. HORST W. OPASCHOWSKI
Universität Hamburg B-A-T Freizeit-Forschungsinstitut
Es gab einmal einen Bauern, dessen Pferd davonlief. Dabei handelte es sich um eine herrliche preisgekrönte Stute. Sofort kamen die Nachbarn, um dem Bauern ihr Mitleid über den herben Verlust auszusprechen. „Du bist sicher sehr traurig“, sagten sie. Doch der Bauer antwortete nur: „Vielleicht.“ Eine Woche später kam die Stute zurück und brachte fünf wilde Pferde mit. Wieder kamen die Nachbarn – dieses Mal zur Gratulation. „Du bist jetzt sicher sehr glücklich“, sagten sie. Und wieder antwortete der Bauer nur: „Vielleicht.“ Am nächsten Tag versuchte der Sohn des Bauern, auf einem der Wildpferde zu reiten. Er wurde abgeworfen und brach sich ein Bein. „So ein Pech“, sagten die Nachbarn. „Vielleicht“, antwortete der Bauer. Drei Tage später kamen Offiziere ins Dorf, um Soldaten zu rekrutieren. Sie nahmen alle jungen Männer mit – nur den Sohn des Bauern nicht, weil er für den Kriegsdienst untauglich war…
Wer sich mit Zukunftsfragen beschäftigt, kann aus dieser Geschichte lernen, dass es nicht nur „eine“ Sichtweise und nicht nur „eine“ Zukunft gibt. Denn nicht alles, was möglich ist, ist auch realistisch. Und nicht alles, was machbar ist, ist auch wünschbar. Eine sozial verantwortliche Zukunftsforschung muss verschiedene Zukünfte aufzeigen, darf nicht nur Antworten auf die Frage geben, wie wir morgen leben werden, sondern muss auch Wege aufzeigen, wie wir morgen leben wollen. Müssen aber nicht angesichts der gegenwärtigen weltpolitischen Lage konkrete Aussagen, die sich auf Entwicklung, Veränderung und Zukunfts-perspektiven beziehen, auf den ersten Blick unrealistisch erscheinen? Lassen globale Krisen präzise Prognosedaten nicht schnell zur Makulatur werden? Meine bisher veröffentlichten Prognosen auf der Basis repräsentativer Bevölkerungsbefragungen haben in den vergangenen Jahren eine große Treffsicherheit erzielt, weil es mir immer nur um eine Frage ging und geht: Wo bleibt der Mensch? Die Welt im Wandel – der Mensch im Mittelpunkt: Das ist mein zentrales Forschungsthema seit über zwanzig Jahren. Nur am Rande interessiert mich die Frage, was technologisch „alles möglich wäre“. Daraus folgt: Große gesellschaftliche Veränderungen von der Perestroika bis zur deutschen Vereinigung kann ich nicht prognostizieren, auch Kriege und Krisen von der Energiekrise über den Golfkrieg bis zu den Terroranschlägen in den USA nicht – voraussagbar aber sind für mich die Lebensgewohnheiten und Verhaltensweisen der Menschen in den nächsten Jahren. In Zukunft kommt es zum Themenwechsel: Im Zentrum der gesellschaftlichen Diskussion steht dann mehr soziales Wohlbefinden als materielle Wohlstandssteigerung – von der Friedenssicherung (60%) bis zur Kriminalitätsbekämpfung (73%). Folgenschwere Entwicklungen und Zukunftstrends zeichnen sich schon heute ab.
Vor über einhundert Jahren kam es in den nordöstlichen Bundesstaaten Brasiliens unter Führung des Wanderpredigers Ibiapina zu einem Bauernaufstand gegen das Dezimalsystem. Die Bauern überfielen Geschäfte und Lagerräume und zerschlugen die neuen Kilogewichte und Metermaße, welche die Monarchie eingeführt hatte, um das brasilianische System an die übrige Welt anzuschließen und den weltweiten Handel zu erleichtern. Der Aufstand der sogenannten Kilobrecher gegen diese Globalisierung scheiterte kläglich. Das Rad der Zeit war einfach nicht mehr aufzuhalten.
Die heutigen Kilobrecher heißen Globalisierungskritiker oder -gegner. Ihnen geht es allerdings weniger um den Widerstand gegen gesellschaftliche Neuerungen, als viel mehr um die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit und um die Utopie einer gerechten und solidarischen Gesellschaft. Die Angst wächst, dass sich durch die Globalisierung die Schere zwischen Arm und Reich in der Welt weiter öffnet. Die Alternative für viele Länder lautete bisher nur: Anpassung an die westliche Welt oder Ausgrenzung. Anpassung aber konnte Selbstverleugnung mit erniedrigenden Nebenwirkungen bedeuten.
So sprießen beispielsweise zur Zeit die Call-Center in Indien wie Pilze aus dem Boden. Da sitzen dann indische Frauen, „denen ein amerikanischer Akzent antrainiert wird. Am Telefon müssen sie sich Susi und Jenny nennen und so tun, als säßen sie irgendwo in Amerika” (Roy 2001, S. 32). In der Realität der Marktforschung von heute zeigen sich schon erste Grenzen der Globalisierung, weil zum Beispiel die globale Methode, das gleiche Produkt überall in der Welt auf die gleiche Weise zu vermarkten, nicht immer funktioniert. Von einigen wenigen Produkten wie zum Beispiel Coca-Cola oder Harley Davidson einmal abgesehen hat die globale Vermarktung zu teilweise spektakulären Fehlschlägen geführt: Die Chinesen lachen sich derzeit über die missverständliche Übersetzung des Limonadennamens TUp (Tod durch Trinken) kaputt (vgl. Fischermann 2000, S. 26). Glaubwürdigkeit lässt sich nur durch nationale und lokale Bezüge herstellen.
Der MTV-Sender beruft sich in diesem Zusammenhang auf einen ganz bewusst neuen Begriff: Glokalisierung – eine Mischung aus Globalisierung und Lokalisierung. Gegen die McDonaldisierung der Welt setzt MTV erfolgreich die weltweite Glokalisierung und strahlt von Brasilien bis China rund dreißig regionale Programme aus, die sich an lokalen Besonderheiten orientieren. Glokalisierung schließt auf diese Weise Weitläufigkeit genauso ein wie Regionales, also Heimat und Nestwärme.
In letzter Konsequenz bedeutet Globalisierung allerdings auch Verteilung der Arbeit rund um den Globus, als Arbeitsplatz-Export, ja Arbeitsplatz-Abbau. Und auch für die übrigen verbleibenden Vollzeitbeschäftigten gilt: Ihre Arbeit wird immer intensiver und konzentrierter, zeitlich länger und psychisch belastender, dafür aber auch – aus der Sicht der Unternehmen – immer produktiver und effektiver. Die neue Arbeitsformel für die Zukunft lautet: 0,5 x 2 x 3, das heißt die Hälfte der Mitarbeiter verdient doppelt so viel und muss dafür dreimal so viel leisten wie früher. Die ständige Produktivitätssteigerung bewirkt, dass immer weniger Mitarbeiter immer mehr leisten müssen.
Der abhängig und unselbständig Beschäftigte kann in Zukunft nicht mehr Leitbild sein. Und auch die klischeehafte Rollenverteilung „Der Arbeiter arbeitet – und der Chef scheffelt“ ist fragwürdig geworden. Der „Neue Selbständige“ ist gefragt, bei dem Persönlichkeitsentwicklung genauso wichtig wie berufliche Fort- und Weiterbildung ist. Jeder muss in seinem Leben eine unternehmerische Grundhaltung entwickeln – am Arbeitsplatz genauso wie im privaten Bereich: Jeder sein eigener Unternehmer! Jeder ist in Zukunft als Lebensunternehmer gefordert, das heißt, der Lebenssinn muss im 21. Jahrhundert neu definiert werden: Leben ist dann die Lust zu schaffen! Schaffensfreude (und nicht nur bezahlte Arbeitsfreude) umschreibt das künftige Leistungsoptimum von Menschen, die in ihrem Leben weder überfordert noch unterfordert werden wollen.
Zukunftstrend 2: Die Leistungslust
Die italienischen Psychologen Fausto Massimini und Antonella delle Fave (Massimini u.a. 1991) interviewten italienische Bauern in den hochgelegenen Bergtälern der Alpen, die von der industriellen Revolution weitgehend verschont geblieben sind. In ihren Interviews kam zum Ausdruck, dass die Bauern ihre Arbeit nicht von ihrer Freizeit unterscheiden konnten. Bei den Interviewern entstand ein doppelter Eindruck: Die Bauern arbeiteten sechzehn Stunden am Tag oder sie arbeiteten überhaupt nicht. Sie molken Kühe, mähten Wiesen, erzählten ihren Enkeln Geschichten, spielten Akkordeon für Freunde. Und auf die Frage, was sie denn gern tun würden, wenn sie mehr Zeit zur Verfügung hätten, kam die Antwort: Kühe melken, Wiesen mähen, Geschichten erzählen, Akkordeon spielen… Für ihr ganzes Leben galt und gilt eigentlich nur ein Grundsatz: „Ich tue, was ich will.“ Das Leben, auch das Arbeitsleben, bot und bietet ständig und gleichermaßen Herausforderungen dafür.
Politik und Wirtschaft sollten sich rechtzeitig auf den sich ankündigenden Wertewandel in Richtung auf eine neue Gleichgewichtsethik einstellen und mehr fließende Übergänge zwischen Berufs- und Privatleben schaffen. Insbesondere die junge Generation befindet sich derzeit auf dem Wege zu einer neuen Lebensbalance. Leistung und Lebensgenuss sind für sie keine Gegensätze mehr. Ganz anders, als es in den 70er bis 90er Jahren befürchtet und diagnostiziert worden war, hat sich
die Einstellung…