Das Naturereignis

Tamara Dragus im Gespräch … Gerd H. Borges

von Tamara Dragus

Geliebt, gehasst, gefürchtet und bewundert. Als Träumer, Chaot, Außerirdischer oder Spinner abgetan. Kein Zweiter in der Branche ist so umstritten wie Gerd H. Borges, seines Zeichens Geschäftsführender Gesellschafter der Sailerbräu Franz Sailer und Inhaber der Marke Altenmünster Brauer Bier. Er selbst bezeichnet sich als kreativsten Bräu Deutschlands und wahrhaftig – wem es vergönnt ist, einen Tag an der Seite von Diplom-Braumeister Borges verbringen zu dürfen, der weiß, dass er seinem Ruf mehr als gerecht wird.
Schon bei der Terminabsprache am Telefon poltert es durch den Hörer: „Trauen Sie sich überhaupt hierher? Wir sind die chaotischste Brauerei weit und breit.“ Ich traue mich, obwohl sein engster Mitarbeiter prophezeit:  „Das überlebt die nicht.“ Überlebt habe ich auch. Was einem im beschaulichen Allgäu allerdings begegnet, übertrifft die kühnsten Erwartungen. Dieser Mann ist ein Ereignis. Um genauer zu sein, ein Naturereignis. Ähnlich einem Vulkan, der nie zum Stillstand kommt. Faszinierend, gewaltig und rund um die Uhr am Brodeln.

Obwohl Gerd Borges mit Sicherheit den leidenschaftlichsten Bräu der Nation verkörpert, hat er eigentlich seinen Beruf verfehlt. Was er sonst noch hätte werden können?! Werber, Erfinder, Schriftsteller oder einfach nur ein begnadeter Freak. Borges denkt, Borges dichtet, Borges entwirft, Borges verwirft. Dieser Mann ist ein Multitalent und das verdankt er nicht zuletzt einem exotischen Genmix, der neben portugiesischem Blut, hugenottischen Vorfahren und einem Großvater, der aufgrund seines erfolgreichen Erdapfel-Handels auch „Kartoffelbaron von Deutschland“ genannt wurde, noch eine Menge anderer Überraschungen parat hält.

Borges‘ Ur-Ur-Großvater ist Gründer der Hamburger Morgenpost, sein Vater Arzt. Trotz hoch dotierter Vorfahren, bleibt Klein Gerd lieber an der Basis. Metzger möchte er werden. Oder Brauer. Letzteres setzt er denn auch in die Tat um. Nach erfolgreichem Studium an der staatlich-brautechnischen Prüf- und Versuchsanstalt Weihenstephan lernt Gerd Borges seine erste Frau kennen und übernimmt 1967 zusammen mit ihr die Brauerei des Schwiegervaters Franz Sailer. Parallel ruft Borges die „Sailerpoint“-Kette ins Leben und begründet damit die ersten organisierten Getränkeabholmärkte Deutschlands. Er erfüllt sich seinen großen Jugendtraum, kauft einen weißen MAN-LKW mit Anhänger und fährt persönlich von Haus zu Haus. Borges arbeitet rund um die Uhr, und da er das mit Erfolg tut, macht er bereits einen Monat später beträchtlichen Umsatz. Zwecks Platzmangel wird der Apfelsaft dann auch schon mal im eigenen Schlafzimmer zwischengelagert, aber das alles juckt ihn wenig, denn nur drei Jahre später existieren über 150 „Sailerpoint“-Märkte, die er kurz entschlossen über Nacht verkauft, um sich fortan seinem Lieblingskind zu widmen: „In meinem Leben kommt zuerst die Brauerei, dann kommt ein großer Misthaufen, dann kommt wieder die Brauerei und dann kommt erst mal nix.“

Das Image des Raubeins pflegt er und mit leisem Stolz präsentiert er die aktuelle Ausgabe der Dorfzeitung, in der sich der widerspenstige Brauer bei der jüngsten Gemeindeversammlung wieder einmal als hoffnungsloser Quertreiber entlarvt hat. Borges trägt das Herz auf der Zunge. Was ihm stinkt, wird geradewegs herausposaunt, und die gleiche bodenständige Direktheit erwartet er auch von seinen Mitarbeitern. Dass man trotzdem hervorragend mit ihm auskommen kann, beweist die Tatsache, dass keiner seiner 68 Angestellten den Drang verspürt, in anderen Gefilden zu wildern. Denn eines ist garantiert: bei Meister Borges ist immer was los. Ob er seine Hühner mit wodkagetränkten Malzkörnern füttert, um die Qualität des Russengesöffs zu testen („Wenn sie blind werden, war‘s Fusel.“), ein bayerisch-brasilianisches Bier mit Libido steigernden Ingredienzen versieht oder ein Trucker-Bier kreiert, dessen Ausstattung stark an die Verpackung einer namhaften erotischen Versandhauskette erinnert – Bräu Borges sprudelt vor Visionen und Ideen. Dass er dabei schon mal seiner Zeit voraus ist oder schlicht und ergreifend übers Ziel hinausschießt, stört ihn wenig. Nach dem Motto „Wer nicht wagt, der nicht gewinnt“, sieht er jede Niederlage als echte Herausforderung, und es scheint fast, als hätte er ein sinnliches Vergnügen am täglichen Kampf um Ansehen und Umsatz.

„Ich wusste früher schon nicht, wohin mit meiner Kraft.“ Die überforderten Eltern des vitalen Bräu mussten zeitweise zu pädagogisch fragwürdigen Mitteln greifen, um das kleine Kraftpaket im Zaum zu halten: mit einer Hundeleine wurde er am Gartenzaun festgemacht, um ihn wenigstens für ein paar Minuten unter Kontrolle zu halten. Wen wundert’s da noch, dass es dem kleinen Gerd bereits als Baby vergönnt war, im Kinderwagen eines bekannten Automobilherstellers durch die Gegend kutschiert zu werden. Wahrscheinlich hat er in seiner Opel-Karre schon damals durch lautes Gebrüll Ton und Tempo angegeben und  seine Umwelt durch überbordende Dynamik an den Rand der Verzweiflung gebracht.

Borges 90-Stunden-Woche beginnt täglich um 5.30 Uhr. Spätestens dann betritt er die heiligen Hallen, um sein enormes Pensum in der ihm eigenen chaotisch-genialen Arbeitsweise zu bewältigen. Zwischen zahllosen Ideen und noch zahlloseren Glimmstengeln, pflegt er seine täglichen Rituale mit strenger Disziplin. Ob es das tägliche Telefonat mit seinen zwölf Außendienstmitarbeitern („Die wollen die Stimme ihres Herrn hören“) oder der allabendliche Rundgang durch die Brauerei ist – Borges möchte in keiner Sekunde den Kontakt zur Basis verlieren.

Obwohl kein Meister im Zuhören, registriert er dennoch jede kleine Nuance, die für seine persönliche Planungssicherheit wichtig sein könnte. Trotz scheinbarem Durcheinander, behält Borges den Überblick, und es ist mehr als faszinierend, mit welchem Kalkül er relevante Umsatzmengen oder Absatzzahlen in seinem Kopf zu speichern weiß. Der Bräu hat sein eigenes Betriebswirtschaftssystem entwickelt, und das lässt ihn so gut wie nie ihm Stich. Über Zahlen spricht er trotzdem nicht gern: „Ich frag sie ja auch nicht, wie groß sie…

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in unserer Print-Ausgabe  05/2003