Die soziale Funktion der Kneipe

von Wilfried Moselt

Zwei Häuser bestimmen heute wie in Vorzeiten das Bild menschlicher Gemeinschaften in unserem Kulturkreis, nämlich das Gotteshaus und das Wirtshaus. Ein Dorf ohne Kirche und Kneipe gilt noch immer als ein in jeder Hinsicht gottverlassenes Nest. Das Verlangen, sich vor dem Altar und vor dem Tresen zu versammeln, ist dem Menschen stets eigen gewesen, und viele Besuche im Hause des Herrn, die auf dieser Erde absolviert wurden, haben wohl erst durch die Aussicht auf den anschließenden Gang in das Haus seines Dieners, des Kneipenwirts, den rechten Motivationsschub erfahren.

“Die kleine Kneipe in unserer Straße, dort, wo das Leben noch lebenswert ist, wo dich keiner fragt, was du hast oder bist.” So etwa besingt es ein Schlager-Ohrwurm und gibt dem Kneipenstammgast ein ordentliches Argument an die Hand, seinen dortigen häufigen Aufenthalt vor sich und der Welt zu rechtfertigen. Nun, wer nie an einem Tresen lehnte, Schulter an Schulter mit munteren Zeitgenossen, die davon überzeugt sind, die Probleme dieser Welt mit jedem Schluck klarer zu erkennen, der hat mit großer Wahrscheinlichkeit einen wesentlichen, einen faszinierenden Teil des menschlichen Miteinanders versäumt. Das kann getrost behauptet werden. “Ich trinke zu Hause keinen Alkohol, sondern nur, wenn ich in die Kneipe gehe”, sagt Jochen, ein Anwalt. “Gemeinsam etwas trinken ist wie gemeinsam etwas essen. Das Schlucken ist sozusagen ein Element des Kontakts. Es ist ein Inhalt, an dem sich Kommunikation entwickelt. Die zweckungebundene Begegnung in einer Kneipe ist ein Bedürfnis des Menschen.”

Wenn der Alkohol die Zunge gelockert und ungeahnten Esprit freigesetzt hat, wenn die drückenden Schwierigkeiten, die jeder mit sich herumschleppt, hinter dem gütigen Schleier “hochgeistiger” Vernebelung ihren Schrecken verlieren, wenn es am Tresen nur so wimmelt von Helden und Experten, von Weltklassetrainern und gewieften Politikern, dann ist die Kneipe dabei, eine ihrer Schlüsselfunktionen zu erfüllen: Sie hilft Spannungen zu lösen und tröpfelt Balsam auf die seelischen Schürfwunden, die der Alltag in unserer gesellschaftlichen Hackordnung für jeden von uns mit sich bringt. Mag sich auch allzu bald der Katzenjammer einstellen, so erfüllt diese Verschnaufpause doch durchaus ihren heilsamen Zweck, indem sie das Gespräch fördert, das der gewöhnliche Sterbliche zum Überleben braucht, auch wenn solche Gespräche mit zunehmendem Alkoholpegel zuweilen zu Monologen entarten.

Die Kneipe als Problemlöser – ein Euphoriezustand, der nicht von Dauer ist – hat in unserem Gesellschaftsgefüge auf jeweils unterschiedlichen Ebenen in der Tat eine Art Stammplatz inne. “Jeder fühlt sich offenbar in der Kneipe wohl, in die er passt”, meint Ulla. Ulla ist Lehrerin, und für sie ist der Gedanke keineswegs abwegig, dass die Kneipe zum Zufluchtsort, zu einer Ersatzstätte für Nähe werden kann, die man zu Hause nicht findet.

“Es ist nicht langweilig, sich immer wieder mit denselben Leuten zu treffen”, sagt sie. “Die wollen ja nichts Neues, die wollen das Bekannte dort, wo sie akzeptiert werden und wo sie etwas sind. In der Kneipe bist du sowieso wer. Du bist Gast, du bringst das Geld. Du kannst sagen, was dich bewegt. Du kannst deine allerpersönlichsten Dinge besprechen, auch wenn eigentlich eher selten ein wirkliches Gespräch zustande kommt. Aber in der Kneipe bist du jemand, und in Gesellschaft trinkt es sich nun mal angenehmer.”

Der gestandene Alkoholiker, der sich schon am Morgen aus seinem Flachmann bedient und dem ersten Glas Schnaps entgegenzittert, ist in der Kneipe in der Minderheit, denn der trinkt vorzugsweise im stillen Kämmerlein, heimlich hinter dem Schreibtisch oder schließlich offen heraus auf der Parkbank.

“Einige kommen auch einfach nur her, um sich zu besaufen”, sagt Delia. Sie ist 22 und arbeitet als Bedienung hinter dem Tresen einer Bierkneipe. “Die meisten aber suchen irgendwelche Kontakte, sie suchen das Gespräch, und natürlich gehört der Alkoholgenuss dazu, um Hemmschwellen abzubauen.

Nach zwei, drei Bierchen kann man leichter reden.” Dass es bei dieser Kontaktsuche nicht vordergründig darum geht, einen Partner zu finden, von dem man mehr erwartet als ein eher unverbindliches Gespräch, wird im Prinzip von allen Aktiven auf der anderen Seite des Schanktisches bestätigt.

Das Gespräch ist angesagt, das Sich-von-der-Seele-Reden, und dazu braucht’s halt mal ein paar Schöppchen Wein oder einige Humpen Bier. Es ist gut, dass es die Kneipe gibt.

Die vollständige Redaktion finden Sie in unserer Print-Ausgabe 3/2002