Calvados – das uralte Gold der Normandie

von Timur Dosdogru

Mit „Leben, wie Gott in Frankreich“ verbindet der Nicht-Franzose landläufiger Weise eher die prachtvollen Schlösser der Loire, opulente Mahlzeiten nach raffinierten Rezepten aus der Provence, und bei den geistigen Genüssen sind es mehr die Bordeaux- oder Burgunderweine, die einem in den Sinn kommen, gleich nach

Champagner und Cognac. Ganz Frankreich trinkt immer nur Wein, möchte man meinen – mitnichten, Frankreich trinkt auch Calvados. In der Normandie bestimmt seit Jahrhunderten hingegen der Apfel die Trinkgewohnheiten aus welchem der Cidre gekeltert und der Calvados gebrannt wird, und auch die kulinarischen Genüsse sind, vor allem bei Desserts, oft eng mit dem Apfel verbunden.

Weinbau wird in diesem Teil Frankreichs kaum betrieben. In längst vergangenen Zeiten galt der Apfelbaum als heilig (denke man allein an den biblischen Baum der Erkenntnis, von dem der Mensch nicht die Finger lassen konnte) und bereits aus der Zeit der Kelten und später der Römer ist bekannt, dass wilde Apfelbäume in großer Zahl schon damals in der Normandie die Landschaft prägten, genährt durch ideale Klima- und Bodenverhältnisse.  Hier hat der Cidre und damit auch später der Calvados seinen Ursprung.
Mit der Entwicklung der Handelsschifffahrt seit dem 13. Jahrhundert kamen die ersten Schiffe von der Biskaya, welche die ersten Setzlinge für Cidreapfelbäume im Bauch trugen, die bald die wild gewachsenen Apfelbäume ersetzten. Dabei kann man schlecht von „dem“ Cidreapfel sprechen, gibt es doch bis heute mehrere hundert Arten des Cidreapfels, der mit dem herkömmlichen Tafelapfel nicht zu vergleichen ist – zum normalen Verzehr ist er (glücklicherweise) nicht besonders geeignet.

Denn er ist meist sehr klein und zeichnet sich durch eine Vielzahl von kräftigen Gerbstoffen aus, welche die vielfältigen Aromen beinhalten. Die Einteilung in vier Familien mag etwas schlicht anmuten: süß, sauer, süß-sauer und säuerlich. Erst die gekonnte Kombination, sozusagen eine Art „blending“, ergibt einen ausgewogenen Cidre oder Calvados. Ein Calvados nur aus einer einzigen Apfelsorte gibt es überhaupt nicht, weil er wohl kaum genießbar, beziehungsweise einseitig und fade wäre.

Verbreitet ist auch der Birnencidre (Poiré). Diese Birnen werden ebenfalls mit Äpfeln vermischt, um für eine interessante, reiche Säure zu sorgen. Mit der Tradition der Apfelbäume in der Normandie mischte sich ab dem 14. Jahrhundert auch die des „sydre“, später „cidre“, der rund 100 Jahre später die Normandie verließ und mehr und mehr im übrigen Frankreich bekannt und beliebt wurde. Wann der erste Calvados gebrannt wurde, ist heute nicht mehr ganz nachzuvollziehen, aber es existiert zumindest ein offizielles Schriftstück vom 28. März 1553 in welchem von der Destillation von Cidre zur Gewinnung eines Branntweins die Rede ist. Dieser Bericht einer gelungenen Destillation findet sich in der Zeitung eines Edelmannes namens Sire de Gouberville aus dem Cotentin, wobei allerdings nicht klar ist, ob dieser quasi als Erfinder der Calvadosdestillation anzusehen ist oder ob er nur ein bereits übliches Verfahren beschrieben hat. Die Zeit der Apfelbranntweindestillateure beginnt um 1600, die sich zu einer Gilde zusammenschlossen.

Der Name Calvados ist eigentlich spanischen Ursprungs. Der Legende nach ist eines der Schiffe an der normannischen Küste auf ein Riff gelaufen, die Phillip II. im Jahre 1588 als seine legendäre spanische Armada gegen England segeln ließ. Dass die Caravelle „El Calvador“, sprich „Bezwinger der feindlichen Schiffe“ hieß, bewahrte sie nicht vor dem Untergang. So ging der Name des Schiffes erst auf den Felsen über, an dem es zerschellte. So wurde angeblich daraus „Calvados“ und als Frankreich in Departments aufgeteilt wurde, stand der Name für das gesamte angrenzende Gebiet.

Man geht davon aus, dass der Name Calvados erst das Department bezeichnete, bevor später das Getränk so getauft wurde, welches überwiegend dort beheimatet war. Der Apfelbranntwein, der jetzt seinen Namen gefunden hatte, wurde bis zur Revolution ausschließlich im Herstellungsgebiet verkauft, was  faktisch bereits als ein früher Gebietsschutz für Weinbrände anzusehen ist. Erst in den Jahren 1792 und 1793 wurde der Handel ausgeweitet und der jetzt als Calvados bezeichnete Apfelbranntwein wurde durch die Nähe der Herstellungsgebiete zu Paris auch in der Hauptstadt bekannt.

Heute finden sich in der Normandie zwei Arten von Apfelhainen: einmal die landschaftstypische bebaumte Weide mit hochstämmigen Apfelbäumen und darunter grasenden Kühen, oder Haine mit Niedrigstammbäumen wie auch Apfelbäumen, die ausschließlich Spezialsorten für die Obstproduktion tragen. Bei letzteren dient die Weide nicht mehr der Tierhaltung, sondern das Gras wird maschinell gemäht. Dies führt zu einer dauerhaft dichten Wiese, die den kostbaren Apfel beim Aufprall schützt. Im gesamten Calvados-Anbaugebiet gibt es derzeit über neun Millionen Bäume, die vor allem im Frühling nicht nur das normannische Auge mit ihren rosa und weißen Blüten erfreuen. Ohne den Cidre geht hier nichts. 80 Prozent der im Pays d’Auge verwendeten Äpfel sind süß-saure Sorten. Diesem Umstand verdankt der Calvados AOC Pays d’Auge seinen typischen Charakter. Die weiteren Herkunftsbezeichnungen sind Calvados und Calvados Domfrontais, die den geographischen Produktionsgebieten entsprechen. Die Äpfel, aus denen der Most gewonnen wird, dürfen nur im Gebiet der Appellation d’Origine Contrôlée gewachsen und gereift sein. Der Most darf nur auf natürliche Weise zur Vergärung kommen. Bei der Destillation des Cidre werden sehr strenge Auswahlkriterien angelegt. So muss der Cidre einen Mindestalkoholgehalt von 4,5 Prozent haben und darf keinen Zuckerzusatz enthalten. Die meisten Cidre enthalten bereits fünf bis sechs Prozent Alkohol, einige erreichen sogar sieben Prozent. Der Anteil der flüchtigen Säure muss pro Liter unter 2,5 Gramm liegen. Destilliert wird im allgemeinen im Frühling und im Herbst.

Unterschiedlich wie die Produktionsgebiete sind auch die Eigenschaften des jeweils dort erzeugten Calvados. So überwiegen beim Calvados Pays D’Auge ton- und kalkhaltige Böden, hierbei kommt ein doppeltes Destillierverfahren zum Einsatz. Der Calvados Domfrontais kommt dagegen aus einer Gegend mit Granit-Untergrund, dort sind die Böden feuchter und es wachsen dort auch viele Birnen. Birnenbäume sind in dieser Gegend genauso zahlreich wie Apfelbäume und manch einer von ihnen hat mit mehreren hundert Jahren ein biblisches Alter. Im Calvados Domfrontais müssen daher mindestens 30 Prozent Birnen enthalten sein. Calvados, für den kein besonderes Destillationsverfahren vorgeschrieben ist, wird überwiegend durch Destillation in einer Destillationskolonne gewonnen. Daher gilt der Calvados Pays D’Auge unter Experten als vollmundiger, allerdings wird ihm aber auch eine längere Mindestreifezeit angeraten. Aber es wird auch empfohlen, ihn nicht unter der Qualität „Hors D’Age“ zu genießen. Generell sollte man auch Calvados und Calvados Domfrontais eine längere Reifezeit zugestehen, aber diese können auch jünger genossen werden.
Vom Cidre zum Calvados

Die Destillation von AOC-Calvados Pays D’Auge erfolgt in zwei aufeinander folgenden Durchgängen im Alambique-Destillierapparat. Zunächst wird der Cidre erhitzt, wodurch ein so genannter Raubrand mit 28 bis 30 Prozent Alkoholgehalt entsteht. Verwendet für die weitere Destillation wird nur der Mittellauf, beim zweiten Durchgang bleibt von dem Raubrand ein Feinbrand übrig, der nicht mehr als 72 Prozent Alkohol enthalten darf, wenn er die Appellation Calvados tragen darf.

Bei der Herstellung von Calvados AOC und Calvados Domfrontais AOC kommt die Kolonnendestillation zum Einsatz, wobei der Cidre über durchlöcherte Platten fließt, statt durch Röhren. Dabei verdampfen die flüchtigsten Bestandteile (Wasser und Ester), auch dieser Brand darf nicht mehr als 72 Prozent Alkoholgehalt aufweisen. Der Calvados reift in Fässern aus sehr trockenem Eichenholz und reichert sich mit Tannin an. Eine bestimmte Alter-ungsmethode gibt es nicht, dies ist immer vom Wissen und der Erfahrung des jeweiligen Kellermeisters abhängig. Seine Arbeit wird in der Normandie gern mit der eines Alchimisten verglichen, weil er mit kundiger Hand Branntweine verschiedener Jahrgänge aus unterschiedlichen Ernten und Gebieten zusammenstellt. Bei dem fertigen Produkt wird zwischen Jahrgängen und Verschnitten unterschieden – wobei das Wort „Verschnitt“ immer ein wenig lieblos klingt. „Mariage“ (Vermählung) ist hier der vornehmere Begriff, der für die eigentliche Kunst des Kellermeisters steht.

Die Angabe einer Jahreszahl auf dem Etikett  bedeutet, dass dieser aus ein und derselben Destillation stammt. So kann auch das Jahr der Abfüllung auf dem Etikett vermerkt sein. Bei den mariages (beispielsweise „20 Jahre alt“) bezieht sich die Altersangabe immer auf den jüngsten verwendeten Brand, was bedeutet, dass bei obigem Beispiel ein 20 Jahre alter Calvados auch mit einem 40 oder 50 Jahre altem Calvados vermischt sein kann.

Unter den Herstellern ist man sich einig, dass der beste Calvados der ist, „bei dem man das Fass schmeckt“. Über die Zeit verliert der Branntwein jegliche Bitterkeit und hat trotzdem einen kräftigen Geschmack, weil das Aroma sich entfaltet hat. Allerdings: es mag sehr reizvoll sein, einen Calvados zu genießen, der schon einige Jahrzehnte auf dem Buckel hat, aber das Nonplusultra muss er damit noch lange nicht sein. Staunen kann man allerdings immer noch bei einem Calvados, der 30 Jahre oder älter ist, welche aromatischen Kräfte dieser noch entfesseln kann; aber am ausgewogensten ist in der Regel eher ein Calvados, der nicht älter als 15 bis 20 Jahre ist. Rund acht Millionen Flaschen, beziehungsweise 25.000 Hektoliter des „Eau de vie“ (Lebenswasser) werden jährlich verkauft, etwa die Hälfte davon geht in den Export. Wichtigster Exportmarkt ist Deutschland, gefolgt von Belgien. Auch die skandinavischen Länder sind weiter im Kommen.

Unter den braunen Spirituosen verkaufe sich Calvados, „pas mal“ – „nicht schlecht“, wie Jean-Pierre Debray, Direktor des Bureau National Interprofessionnel du Calvados, du Pommeau et des Eaux-de-Vie de Cidre et de Poiré (BNICE) berichtet. An Debray kommt keiner vorbei, der irgendwie etwas mit dem normannischen Gold zu tun hat. Dem Direktor obliegt die gesamte Kommunikation für alle Produkte, wie auch die Geschäftsführung zwischen den Sektionen und Ministern und nicht zuletzt auch die gesamte Alters- und Qualitätskontrolle in Sachen Calvados. In den letzten drei Jahren sei Calvados jedes Jahr unbeeindruckt vom rück-läufigen Spirituosenmarkt um zwei Prozent gewachsen, so Debray weiter. „Die jungen Konsumenten suchen mehr den frischen Apfelgeschmack“, erklärt Debray, der gerade Deutschland eine bestimmte Affinität zum Apfel bescheinigt, den Fakt, mit dem Calvados als Mixspirituose bekannter gemacht werden soll.

So wurde in zahlreichen Schulungen in den letzten Jahren verstärkt für das Image des Calvados geworben und Barkeeperschulungen durchgeführt, um den Calvados als vielseitiges Mixgetränk auch stärker in der Gastronomie zu verankern. Vor allem will man dem schwindenden Digestif-Gedanken Rechnung tragen: „Das Verhältnis zum Digestif hat sich geändert“, weiß der Gralshüter des normannischen Goldes. Einige Umstrukturierungen bei den Appellationen haben die Schulungen in Sachen Calvados in diesem Jahr einschlafen lassen, im kommenden Jahr sollen diese aber wieder fortgesetzt werden, um Mittlern und Konsumenten die Normandie näher zu bringen.

Auch im wichtigsten Exportmarkt Deutschland sollen Barkeeperschulungen dem Calvados zu mehr Popularität verhelfen. Seit sechs Jahren führt das Calvados-Büro, welches kürzlich in Interprofession des Appellations Cidricoles (IDAC) umfirmiert wurde, die Trophées Internationaux des Calvados Nouvelle Vogue durch. Bei diesem Wettbewerb haben die Probanden die Aufgabe, fantasievolle Cocktails auf Calvadosbasis zu kreieren. Dabei können angehende und professionelle Barkeeper aus ganz Europa ihre Kunst unter Beweis stellen. Ausgerichtet wird dieser Wettbewerb in Zusammenarbeit mit der ABF Normandie, dem französischen Pendant der Deutschen Barkeeper Union (DBU). In diesem Jahr bildete das prachtvolle „Grand Hôtel de Cabourg“ im gleichnamigen Seebad die bunte Kulisse.

Auch Marcel Proust pflegte dort mit Vorliebe seine Urlaubstage zu verbringen, eine gleichnamige Suite im Grand Hotel erinnert noch heute daran. Urlaubsstimmung dürfte bei den Teilnehmer wohl kaum aufgekommen sein, eher Stress und Hektik, ging es doch für manche um alles oder nichts. Da zitterte auch schon mal die routinierte Hand beim Aufstecken der fruchtigen Dekorationsbestandteile, ging ein Shaker nur noch mit rabiater Hilfe eines Jurymitglieds auseinander.

Um es aber gleich vorweg zu nehmen: die französischen Teilnehmer entschieden den Wettbewerb komplett für sich, nicht ein einziger Ausländer aus insgesamt sieben weiteren europäischen Ländern (Belgien, Deutschland, Holland, England, Italien, Luxemburg, Schweiz) konnte sich mit seinen Calvados-Longdrink-Kreationen durchsetzen, auch nicht der Deutsche Philipp Schliffke mit seinem „Madonna Jack“, Auszubildender im Hotel Vier Jahreszeiten Hamburg. Selbiges galt allerdings auch bei den Fachjournalisten, die bei der außer Konkurrenz laufenden „Trophée des Journalistes“ gegeneinander antraten. Hier galt allerdings mehr der Spaßgedanke und so gestaltete sich der Wettbewerb etwas heiterer. Aber: auch die fantasievolle, eigens für diesen Anlass geschaffene Kreation, mit…

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